D. Ruisinger: Die Zürcher Seidenstoffindustrie, 1880–1914

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Titel
Textur der Gestaltung. Die Zürcher Seidenstoffindustrie, 1880–1914


Autor(en)
Ruisinger, Denise
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
217 S.
von
Meret Ernst

Seidenstoffe, hergestellt in Zürich – ein Widerspruch? Die Stadt lag im 19. Jahrhundert weitab von den Modezentren. Ohne Grossbürgertum, generierte sie kaum lokale Nachfrage, zumal die Hersteller den Rohstoff importieren mussten. Trotzdem produzierte die Zürcher Seidenindustrie im Rang des weltweit führenden Lyons. Wie sie diese Position erkämpfte, schildert Denise Ruisinger in einer lesenswerten Studie, die auf ihrer an der ETH Zürich 2021 eingereichten Dissertation basiert.

Sie analysiert mikrohistorisch neun Unternehmen entlang der Umbrüche zwischen 1880 bis 1914. Markiert werden diese durch die Lange Depression, die Mechanisierung der Produktion, die Demokratisierung der Mode und erweiterte Absatzmöglichkeiten. In diesem Zeitraum, so die These, erhielt die Seidenindustrie eine neue Gestalt und entwickelte «eine ganz neue Praxis der industriellen Gestaltung ihrer Produkte» (S. 10). Damit wird die Frage nach der Rolle der als «doppelbödig» definierten Gestaltung gestellt, die begrifflich sowohl die Produktästhetik als auch die Prozesse des Entwickelns, Entwerfens und Produzierens umfasst. Blaszczyk folgend, analysiert die Autorin industrielle Gestaltung aus einer unternehmens- und (weniger ausgeprägt) konsumgeschichtlichen Perspektive.1

Die Studie greift im Wesentlichen auf Archivalien der Zürcherischen Seidenindustrie Gesellschaft ZSIG zurück und auf die Mitteilungen über Textilindustrie (1894–2012). Die Analyse von Musterbüchern, die als «opake Objekte» gelten (S. 16), verknüpft die Produkte des unternehmens- und industriegeschichtlichen Gegenstands, den die Autorin unter einem design- und technikhistorischen Blickwinkel erfasst, mit Ansätzen der Material Culture Studies. Über eine produktästhetische Analyse der Stoffe hinaus, die gestalterische Qualitäten und textiltechnische Vorgaben zu klären hat, zeigt die Autorin in vier Kapiteln den jeweiligen Zusammenhang zwischen Gestaltung und Ausbildung, Produktion, Verkauf sowie Unternehmensadministration auf. Sie rückt so die Praktiken, Orte und Akteure in den Fokus, die das Produkt in einem umfassenden Sinn «gestalten». Der erste Zugriff analysiert die 1881 von der ZSIG gegründeten Seidenwebschule. Als strategische Massnahme konzipiert, galt es, Wissensdefizite gegenüber der Konkurrenz aus Lyon und Krefeld zu kompensieren. Unterrichtet wurden die Schüler im Weben, Mustern und Verwalten. Die Schule unterwies ihre Absolventen in Textiltechnik und bereitete diese nach 1912 auf Tätigkeiten in der Administration, der technischen Umsetzung oder der Gestaltung vor. Darin spiegelt sich die für die Schweiz typische, gewerblich orientierte gestalterische Ausbildung, die in erster Linie auf eine solide technische Basis setzte.

Die Mechanisierung der Seidenweberei, die erst ab 1880 das Verlagswesen ersetzte, reagierte auf den Bedarf der Warenhäuser, auf knappere Lieferfristen und das steigende Tempo der Modeindustrie. Sie setzte hohe Investitionen voraus und erforderte technisches Wissen, was die Tätigkeiten in der Fabrik ausdifferenzierte. Neben der risikoarmen Variantenbildung und dem Kopieren von Konkurrenzprodukten, wurden in der Musterweberei Neuheiten generiert. Das Experiment mit Garnsorten und Gewebeneuheiten gilt der Autorin als schweizerische Besonderheit (S. 77). Die Rolle der Dessinateure bestand darin, das modische Risiko für die Industriellen zu minimieren. So erfolgte «der Einzug der Gestaltung […] gewissermassen durch die Hintertür» (S. 91) der Mode.

Ab 1890 drängten die Warenhäuser auf den Direkteinkauf. Die geringeren Erlöse kompensierten die Unternehmensführer der Zürcher Seidenindustrie durch erhöhte Gewinnmargen und Absatzmengen, was zu einer Nivellierung des Angebots führte. Informationsbüros, Musterdienste und Fachzeitschriften traten an die Stelle der Kommissäre, die davor die Dessinateure informiert hatten. Um 1900 konkurrierten New York, London oder Berlin mit Paris als Modemetropole; in dieser unübersichtlicheren Situation stärkten die internen Verkaufsabteilungen die Konsumorientierung.

Ab 1900 erkannten die Unternehmensführer das strategische Potenzial der Gestaltung und administrierten es entsprechend. Ihre Familienunternehmen wuchsen zu multinational agierenden Firmen, die bis zu einige Tausend Arbeitende beschäftigten. Das erforderte neue Formen der schriftlichen Kommunikation, Registraturen und produktionsspezifischer Ablagen. Das Büro wurde zur Schaltzentrale; neue Musterbuchtypen integrierten Produktion, Kreation und Verkauf. «Gestaltung wurde Verwaltungssache, und Verwaltungsakte ermöglichten eine Potenzierung der Flexibilisierung der Textilgestaltung.» (S. 180)

Die Studie beschreibt industrielle Gestaltung als eine Praxis, die erlernt, professionalisiert und ökonomisiert wird. Die Ausdifferenzierung einer Gestaltungsauffassung von einer nachahmend-technokratischen, über eine innovativ-marktforschende hin zu einer systematisch-strategischen Dimension wird faktenreich belegt. Es ist eine grosse Stärke der Arbeit, dass sie weder ein Primat der Gestaltung behauptet noch das Narrativ einer teleologischen Entwicklung hin zu multinationalen Unternehmen ableitet. Die mikrohistorische Perspektive vermag vielmehr die Effekte zu erklären, welche die Ausbildung, die Mechanisierung, die marktforschende Rolle des Verkaufs und die Verwaltung auf das Erkennen einer strategischen Funktion der Gestaltung hatten. Damit bekräftigt die Studie, wie wichtig multiperspektivische Analysen der Kontexte Produktion, Konsum und Vermittlung für eine kritische Designhistoriographie sind.2

Anmerkungen
1 Regina Lee Blaszczyk, Imagining Consumers. Design and Innovation from Wedgwood to Corning, Baltimore 2000.
2 Grace Lees-Maffei, The Production–Consumption–Mediation Paradigm, in: Journal of DesignHistory 22/4 (2009), S. 351–376.

Zitierweise:
Ernst, Meret: Rezension zu: Ruisinger, Denise: Textur der Gestaltung. Die Zürcher Seidenstoffindustrie, 1880–1914, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 409-409. Online: https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134.

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